Auf Sylt gibt es viele Geheimnisse, aber keines ist so berüchtigt und mystisch wie der Bahnsteig 6 5/9.
Während Touristen hektisch versuchen, ihre Strandkörbe mit auf die Regionalbahn nach Niebüll zu schleppen, gibt es diesen einen versteckten Bahnsteig, der angeblich die Verbindung zur Hochseeinsel Helgoland herstellt. Die „mystische Bahnstrecke“ – ein Begriff, den die meisten Sylter nur mit einem bedeutungsvollen Kopfnicken und leichtem Schaudern aussprechen. Denn seien wir ehrlich: Wer braucht schon eine Fähre, wenn man auf einem unsichtbaren Bahnsteig in einen Zug steigen kann, der direkt ins Herz von Helgoland fährt?
Die Geschichte von Gleis 6 5/9 ist ein wenig wie ein sehr schlecht gehütetes Geheimnis. Jeder auf Sylt kennt es, aber niemand will darüber sprechen – es sei denn, man hat schon zwei, drei Gläser Friesengeist intus, dann sprudeln die Anekdoten förmlich heraus. Das Problem ist nur, dass die Details sich je nach Alkoholpegel und Erzähler drastisch unterscheiden. Mal heißt es, die Bahn fährt nur bei Ebbe, mal behauptet jemand, man müsse den Wind dreimal anrufen und dabei rückwärts den Namen der ältesten Sylter Dorfkneipe flüstern, um Zutritt zu bekommen.
### Ein Bahnsteig wie aus einem Harry-Potter-Buch – aber viel norddeutscher
Um den geheimnisvollen Bahnsteig zu finden, muss man sich zuerst in den Westerländer Bahnhof wagen, ein Ort, der mit einer Mischung aus moderner Architektur und bahnhofsüblichen Graffitis besticht. Dort steht man dann zwischen Gleis 8 und 9 – naja, genau genommen zwischen Gleis 6 und einem mit Sand überzogenen Abstellgleis, das schon seit Jahren nicht mehr benutzt wird, es sei denn, eine Möwe beschließt, dort ihre Geschäfte zu verrichten. Und dann beginnt das eigentliche Abenteuer.
Die Sage erzählt, dass man den Bahnsteig nur betreten kann, wenn man den genauen Fahrplan der „MS Helgoland“ im Kopf hat – also jenen majestätischen Kahn, der normalerweise die weniger mutigen Touristen zur Insel bringt. Mit diesem Wissen ausgestattet, muss man genau in der Mitte zwischen den Gleisen stehen und sich vorstellen, man sei ein Flaschengeist, der durch ein Nadelöhr schlüpfen muss. Nur dann, so heißt es, taucht Gleis 6 5/9 auf, schimmernd wie die feuchte Haut eines Nordseekrabbenbrötchens.
Und der Zug? Nun, die „Helgoland-Express-Dampflok“, wie sie in den Geschichten genannt wird, soll von einer geheimen Energiequelle angetrieben werden, die irgendwo zwischen Algen und Seetang liegt. Wissenschaftler streiten sich seit Jahrzehnten darüber, wie genau das funktionieren könnte, aber das hält die Möwen, die den Fahrplan schreiben, nicht davon ab, jeden Morgen pünktlich um 5 Uhr ihre Streckenplanung zu gackern.
### Ein Ticket nach Helgoland, bitte! – Aber Vorsicht: Rückfahrt ungewiss
Nun, angenommen, man hat es tatsächlich geschafft, den sagenumwobenen Zug zu besteigen. Die erste Überraschung: Es gibt keine Fahrkartenkontrolleure. Stattdessen wird man von einem seltsam vertrauten Herrn begrüßt, der ein wenig wie ein nasser Fischer in Frührente aussieht und nur ein Wort sagt: „Helgoland?“ Man nickt, obwohl die Frage mehr rhetorisch wirkt. Und dann beginnt die Fahrt.
Die Landschaft, die sich durch das Fenster zieht, ist atemberaubend. Und mit atemberaubend meine ich, dass man nach einer halben Stunde Fahrt keine Ahnung hat, wo man eigentlich ist. Alles sieht gleich aus: ein endloses Meer aus Schlick, Dünen und gelegentlich eine einsame Robbe, die verwirrt in Richtung der Gleise schaut.
Spannend wird es, wenn man sich mit den anderen Fahrgästen unterhält. Es gibt zwei Kategorien von Menschen, die auf dieser Strecke reisen: Erstens die Neulinge, die alles fotografieren und sich ständig fragen, ob sie tatsächlich in einem Zug sitzen, und zweitens die „Veteranen“. Letztere sind die wahren Mysterien auf dieser Fahrt. Sie sitzen still, nicken ab und zu bedeutungsvoll und murmeln etwas von „der Wendezeit“, „dem alten Helgoland“ und „der verlorenen Scholle“. Keiner weiß genau, was das bedeuten soll, aber das macht es nur noch mysteriöser.
Nach etwa drei Stunden (oder waren es drei Tage?) erreicht der Zug Helgoland. Oder zumindest das, was man dafürhält. Denn dieser Teil der Legende ist besonders verworren: Es ist unklar, ob man das „echte“ Helgoland erreicht oder eine Art Parallelwelt-Version, in der die Möwen das Sagen haben und die berühmten roten Felsen aus Pappmaché bestehen. In jedem Fall gibt es keinen Empfang auf dem Handy, und das ist vielleicht das mystischste an der ganzen Reise.
### Helgoland – Das Land der Träume (oder Albträume?)
Helgoland selbst ist in dieser alternativen Bahnwelt ein Ort der Widersprüche. Die Luft ist erfüllt von der merkwürdigen Kombination aus frischem Seetang und dem Duft von überteuertem Parfüm, das aus den Duty-Free-Shops weht. Die Möwen, die hier das Sagen haben, tragen alle kleine Kapitänsmützen und scheinen einen endlosen Vorrat an Fischbrötchen zu verwalten, die sie gnädig an die Ankömmlinge verteilen – aber nur, wenn man ihre Wettervorhersagen ernst nimmt.
Denn auf dieser Version von Helgoland sind die Möwen die Wetterorakel. Sie fliegen in komplizierten Mustern über die Insel und legen sich dann wie kleine, laute Propheten auf den Boden, um das kommende Wetter zu verkünden. Wer sich nicht an ihre Vorhersagen hält, der landet in der „Düne der Vergessenen“, einem Ort, der aus so viel feinem Sand besteht, dass man für immer darin verloren geht – oder zumindest so lange, bis der nächste Zug zurück nach Sylt fährt.
### Die Rückfahrt – Falls es eine gibt
Und hier kommt der eigentliche Haken an der mystischen Bahnstrecke. Man weiß nie so genau, ob und wann der Zug zurück nach Sylt fährt. Einige behaupten, man müsse ein Opfer bringen – vorzugsweise eine Kiste friesisches Bier – um die Rückfahrt zu garantieren. Andere wiederum meinen, man müsse einfach nur den richtigen Möwenkönig finden und ihn mit einem frischen Krabbenbrötchen bestechen. Wie dem auch sei, es gibt keine Garantie.
Jene, die es zurück nach Sylt schaffen, sind oft für immer verändert. Sie sprechen in Rätseln, behaupten, das „wahre Helgoland“ gesehen zu haben, und haben einen merkwürdigen Glanz in den Augen, als hätten sie die Geheimnisse des Universums erblickt – oder zumindest den besten Platz für Fischbrötchen auf der Insel.
Ob man es also wagt, den geheimen Bahnsteig 6 5/9 zu betreten, bleibt jedem selbst überlassen. Aber eines ist sicher: Sollte man jemals auf dieser Bahnstrecke nach Helgoland reisen, wird man nie wieder derselbe sein.